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Von 2010 bis 2015 war ich Teil einer Yogagruppe, die sich in dieser Zeit stark veränderte. Die Gruppe wurde zu einer festen spirituellen Gemeinschaft, in die sich immer mehr sektenartige Strukturen einschlichen.

 

Wie alles anfing

Ich war gerade 19 geworden, mit dem Abi fertig und das Leben stand mir offen. Was sich erst gut anfühlte wurde schnell zu einem Meer an Möglichkeiten, in dessen Mitte ich stand und mich verloren fühlte. Die meisten meiner Schulfreunde zogen weg und meine engsten Freundinnen gingen für ein Jahr ins Ausland – ich fühlte mich alleingelassen und musste mein Leben komplett neu ausrichten, herausfinden wo ich weiter gehen möchte und mit wem.

Mein damaliger Freund blieb jedoch in der Stadt. Er war gerade dabei wieder intensiver Teil einer Yogagruppe zu werden, praktizierte jeden Tag eine bestimmte Reihe mit Übungen und lag mir nicht selten in den Ohren ich solle doch auch mal mitkommen. Er erzählte von den beiden Lehrern, die Dinge erzählten mit denen ich nie zuvor in Kontakt gekommen war. Sie sprachen über Selbstverwirklichung, übersinnliche Fähigkeiten, Wiedergeburt und schienen zu jeder Frage eine Antwort zu haben. Ich war skeptisch und doch breitete sich mit der Zeit eine Neugierde in mir aus. Doch ich ließ mir Zeit mit einer Probestunde. Mein Freund machte allerdings immer mehr Druck und als er schließlich klar machte, dass ihm sein neuer Weg so viel bedeute, dass unsere Beziehung nicht länger bestehen könne, würde ich nicht den gleichen Weg einschlagen, sah ich mir das ganze mal an.

Eine neue Weltsicht

Zunächst war ich schüchtern und ließ mich nicht wirklich auf die Gruppe ein. Die meisten dort waren älter und wären normalerweise nicht Teil meines Lebens gewesen. Doch da die Treffen der Gruppe so regelmäßig wurden und viel Zeit einnahmen, stellte sich bald eine gewisse Vertrautheit ein. Ich war froh eine neue Ausrichtung gefunden zu haben und war immer wieder geflasht von der komplett neuen Weltsicht, die die Gruppe mit sich brachte.

Schnell wurde es normal, die Lehrer überzeugt zu zitieren und andere Sichtweisen als Nichtwissen abzutun. Wie das oft so ist mit neuen Erkenntnissen, erzählte ich vielen meiner Freunde begeistert von meinen Erlebnissen und versuchte sie mit in die Gruppe zu bringen – auch wenn das nicht explizit verlangt wurde. Erst später bemerkte ich wie verbohrt ich dabei war und dass ich mich weiter und besser fühlte, weil ich Dinge verstanden hatte, die die meisten Menschen noch nicht wissen. So dachte ich zumindest damals.
Als meine beste Freundin nach ihrem Jahr im Ausland zurück kehrte und genau wie ich zuvor vor der Frage stand was nun der nächste Schritt war, war es für sie keine Frage Teil der Gruppe zu werden. Auch andere Freunde, die noch in der Stadt waren, schlossen sich uns an. In dieser Zeit wuchs die Gemeinschaft ziemlich schnell an.
In der Gruppe herrschte das allgemeine Bild, auf dem richtigen Weg zu sein. Auf dem einzig richtigen sogar. Alle anderen waren auf dem Holzweg und hatten es einfach noch nicht kapiert. Sie waren ja auch „noch nicht so weit“ wie wir. Nur durch Yoga und die damit verbundene regelmäßige Praxis der Techniken, die wir dort an die Hand bekamen, war der Weg zur Befreiung möglich und nur so konnten wir unser Ego überwinden und die nächsten Bewusstseinsebenen erreichen. Es war ein Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl, wie ich es bis dahin nicht erlebt hatte. Auch die Praxis fühlte sich gut an und ich merkte in der Regelmäßigkeit schnell eine neue Klarheit und Veränderung auf vielen Ebenen. Die Übungen waren super, keine Frage, und ich stehe auch heute noch hinter den Techniken, die mir dort an die Hand gegeben wurden.
Was sich jedoch in eine immer starrere Richtung entwickelte war die Entwicklung innerhalb der Gemeinschaft. Eigentlich war es schon früh daran erkennbar, wie sich der Kontakt zu meinem Umfeld veränderte…

Narzissmus überall.

Ich hatte zu wenigen Freunden außerhalb der Gruppe überhaupt noch viel Kontakt und das Verhältnis zu meiner Mutter wurde extrem viel schlechter. „Wir sind doch jetzt deine Familie“ sagte mir einmal ein Mitglied der Yogagruppe, als im Raum stand, Weihnachten mit der Gruppe zu feiern, und ich äußerte, dass ich diese Zeit gerne mit meiner Familie verbringen würde.
Eine ganze Zeit lang fühlte ich mich bombastisch und dachte ich sei genau auf dem richtigen Weg.
Doch dann fing eine Reihe von Veränderungen an: Einer unserer Lehrer bat uns, den Kontakt zum zweiten Lehrer wegen seines ausufernden Narzissmus-Themas abzubrechen. Ein Teil der Gruppe spaltete sich daraufhin ab. Kurz darauf trennte sich der Lehrer von seiner (ebenfalls „narzisstischen“) Freundin, die daraufhin die Gruppe verließ und eine lange Mail verfasste, in der sie ihre Sicht auf die Verhaltensweisen der letzten Jahre äußerte.
Auf einmal sahen wir uns auch mit kritischen Stimmen zur Gruppe konfrontiert und immer war klar wie damit umzugehen war – die „Ausgestiegenen“ entschieden sich für den falschen Weg, waren nicht länger bereit an sich zu arbeiten und zogen mit weiterem Kontakt die Energie der Gruppe an sich. Daher war radikaler Kontaktabbruch ohne weitere Konversation die einzig logische Schlussfolgerung, um uns alle zu schützen.
Auch in der Gruppe wurde nicht mehr viel über die Ausgestiegenen gesprochen, und wenn doch, dann nur um ihre hinterlassenen Worte und Taten komplett zu dekonstruieren und so zu interpretieren, bis klar war – dieser Mensch brauchte psychische Hilfe und war auf einer niederen Entwicklungsstufe hängen geblieben. Die gemeinsame Sprache der Gruppe fand für alles plausible Antworten.
Kritik am Lehrer und seiner neuen Partnerin war unerwünscht und eine unausgesproche und verdrängte Furcht lag über dieser Möglichkeit. Denn alles konnte gekonnt gegen einen verwendet werden und niemand wollte der/die nächste sein, dessen Ego überhand nahm.

Doch ein kleiner Zweifel hatte sich in mir ausgebreitet…

Wer draußen ist, ist verloren

Immer öfter hinterfragte ich die Strukturen innerhalb der Gruppe. Es war nicht leicht, diese Gedanken zuzulassen, denn sie bedeuteten gleichzeitig meine Weltsicht aufzugeben und das, was ich für den absoluten Lebenssinn gehalten hatte, loszulassen. Zusätzlich dazu würde es bedeuten meine Freunde zurückzulassen, denn ich wusste wie man mit Kritik an der Gruppe umging. Doch ich kam nicht dagegen an, mich immer mehr von der Gemeinschaft zu distanzieren und meiner Intuition zuzuhören, dass etwas faul war.

Schließlich wurde auch von Seiten der Gruppe meine wachsende Distanz bemerkt und mein neuer Partner (und jetziger Mann) und ich wurden vor die Wahl gestellt – entweder wir ziehen sofort in eine Gemeinschaftswohnung mit den anderen Mitgliedern und richten uns wieder korrekt aus, oder wir müssen die Gruppe verlassen. Der Druck war groß und wir entschieden uns zu bleiben. Doch nur einen Tag später ging es mir so schlecht wie noch nie in meinem Leben. Ich musste mir eingestehen, dass meine Intuition und mein Herz ganz genau wussten, dass mein Weg in eine andere Richtung führte und dagegen anzukämpfen war unerträglich. Also kehrten wir den Menschen, mit denen wir fünf Jahre lang die meiste Zeit verbracht und unsere innersten Themen geteilt hatten, den Rücken zu und wurden fortan von ihnen wie Luft behandelt.
Auch mit meiner langjährigen besten Freundin war ohne abschließendes Gespräch unter vier Augen von heute auf morgen kein Kontakt mehr möglich. Es begann eine innere Zerreißprobe zwischen der Gewissheit, dass ich mit meinen Gefühlen richtig lag, und all den Mustern und Denkweisen, die ich aus der Gruppe mitnahm und an die ich noch eine ganze Zeit lang glaubte. Genauer gesagt machte ich mich erstmal ziemlich fertig dafür, vom richtigen Weg abgekommen zu sein und mein spirituelles Vorankommen in diesem Leben verschenkt zu haben. Denn uns war immer wieder gesagt worden, dass es ohne die Gruppe und vor allem ohne Lehrer unmöglich sei, sein Ego zu überwinden und wirklich spirituell zu wachsen. Ich fühlte mich verloren und einsam, denn ich hatte nicht viele Freundschaften außerhalb der Gruppe gepflegt und das Verhältnis zu meiner Familie war zerrüttet und musste erst wieder aufgebaut werden. Zunächst traute ich mich nicht einmal mit anderen über das Erlebte zu sprechen und war immer ein wenig überrumpelt, wenn das Gespräch mit Freunden oder Bekannten auf meine beste Freundin fiel – die außerhalb der Gruppe nie erwähnt hatte, dass wir keinen Kontakt mehr haben. Man sprach nicht über Dinge, die in der Gruppe passierten, denn Außenstehende verstanden nichts davon und weckten höchstens Zweifel. Das war nicht gewollt.

Eine ganze Weile schützte ich die Gruppe sogar noch in solchen Gesprächen.

Verarbeiten & Heilen

Erst als immer mehr Menschen aus der Yogagruppe austraten und sich Gespräche ergaben, konnte ich das Erlebte der letzten Jahre langsam verarbeiten und einordnen. Viele der „Ausgestiegenen“ benötigte psychologische Hilfe um überhaupt wieder in der Welt zurecht zu kommen und traumatische Erlebnisse aus der Gruppe zu heilen. Manchen von ihnen waren auf extrem unmenschliche Weise behandelt und aus der Gruppe isoliert worden, mit den Worten: „Du musst erst alles verlieren, damit du „es“ kapierst!“

Anderen war geraten worden, ihre Beziehungen zu beenden oder den Kontakt zu ihren Familien abzubrechen.

Rückblickend wurde erkennbar, dass die Gruppe über lange Zeit immer einen Sündenbock gebraucht hatte, der dann entweder selber glaubte diese Maßnahmen seien nötig für sein Wachstum, oder die Gemeinschaft schließlich mehr oder weniger traumatisiert verließ. Die restlichen Mitglieder fühlten sich dadurch stets in ihren Ansichten bestätigt und in ihrem Zusammenhalt gestärkt.
Das Ziel der Gruppe war immer die Selbstverwirklichung gewesen, zusammen mit einer Ausrichtung auf eine höhere Bewusstseinsebene, um die Menschheit anzuheben. Damit einher ging jedoch in unseren Reihen immer noch die Ablehnung unterer Ebenen, und eine gewisse Überheblichkeit, obwohl das nach der Lehre ein Zeichen dafür war, eben noch nicht dort angekommen zu sein, wo viele Gruppenmitglieder zu sein glaubten.
Erst viel später verstand ich, dass die Gruppendynamik selbst uns allen im Weg gestanden hatte. Denn in einer Gemeinschaft greifen zwangsläufig gewisse Muster, die das Individuum an einer persönlichen Entfaltung hindern können – was dem entgegen steht, was wir eigentlich erreichen wollten. Was zählt ist stets die Gruppe, keine Einzelschicksale. Daher kann eine Gemeinschaft sehr grausam sein und einzelne Personen in gewisser weise „opfern“, wenn das ein gemeinschaftliches Vorankommen verspricht.

Die Offenheit, die wir uns in all den Jahren auf die Kappe geschrieben hatten, hätte eine Öffnung der Gruppe gebraucht und eine Bewegung hin zum Kollektiven, um uns wirklich weiter zu entwickeln und die engstirnigen Konzepte loszulassen.

Mein Leben nach der Sekte

Heute bin ich dankbar für alles was ich damals erlebt habe, aber ich bin auch sehr vorsichtig geworden. Das Wort „Sekte“ erlaube ich mir erst seit kurzem in den Mund zu nehmen. Die Konzepte und damals erlernten Sichtweisen auf die Welt greifen nicht mehr und ich fühle mich befreit von fremden Vorstellungen.

Meine Selbstkasteiung ist einem wachsenden Selbstbewusstsein gewichen und ich lerne immer mehr ganz bei mir anzukommen und auf meine Intuition zu vertrauen. Mein Leben fühlt sich runder an, unaufgeregter und echter.
Bis heute fällt es mir schwer, das Geschehene für mich einzuordnen und darüber zu sprechen. Da es damals für mich wie normal dazu gehörte, schleichen sich schnell Gedanken ein wie: „Das war doch alles halb so schlimm!“, „Sekten sind doch viel extremer“, etc. Doch ich finde es wichtig, den Blick für solche Entwicklungen zu schärfen und darüber aufzuklären. Denn scheinbar kommen sektenartige Strukturen gar nicht so selten vor.
Wie jeder einzelne damit umgeht ist ganz unterschiedlich und auch der Grad an Abhängigkeit, den jeder eingeht.
Vieles war gut, was ich in der Gruppe gelernt und gelebt habe, und das nehme ich mit, alles andere lasse ich los. Ich werfe niemandem etwas vor und doch tun mir die Hand voll Menschen leid, die noch immer an der inzwischen stark geschrumpften Gruppe festhalten. Darunter auch meine Freundin, die weiterhin keinen Kontakt wünscht.