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Immer wieder ist in verschiedenen Traditionen und Religionen die Rede vom Anfängergeist. Zuletzt habe ich davon in einem wirklich guten Buch von Richard Rohr gelesen.
Anfängergeist bedeutet nichts anderes, als offen zu bleiben für Veränderung, und sich immer wieder klar zu machen, dass man überhaupt nichts weiß.

Das ist in unserer Gesellschaft gar nicht so leicht. Früher dachte ich, wenn ich erwachsen werde habe ich etwas Bestimmtes erreicht und bleibe dann dort. Und das ist ja auch, was einem immer wieder vor der Nase liegt; Menschen, die meinen, durch ihr Alter eine bestimmte Reife und einen Wissensschatz erworben zu haben, schlauer und weiter als Andere zu sein, und sich nicht mehr ändern zu müssen. Da kommt dann schnell mal der Satz „So bin ich halt, finde dich damit ab.“, wenn man etwas anspricht, was einem vielleicht gerade am Anderen aufgefallen ist.

Dabei lernt und wächst man bis an sein Lebensende und jede Sekunde bietet die Möglichkeit, an sich zu arbeiten und die Welt immer wieder mit neuen Augen zu sehen! Kinder machen das ganz automatisch; sie haben einen enormen Wissenshunger und streben permanent danach zu wachsen. Diese Offenheit führt natürlicherweise auch dazu, dass wir verletzt und enttäuscht werden können, was vielleicht der Grund ist, weshalb wir uns mit der Zeit immer größere Widerstände dagegen aufbauen und uns der Bequemlichkeit hingeben. Es ist aber nie zu spät sich wieder mit offenem Blick in der Welt umzusehen, als hätte man noch nie zuvor gesehen.
Was ist schon ein wenig Verletzung oder Enttäuschung, die wir sowieso nicht verhindern können (und aus der wir meistens lernen), für ein buntes, aufregendes Leben, das vor Liebe und Freude nur so sprudelt?

Richard Rohr beschreibt den Zustand des Anfängergeistes als „eine leere Tafel, auf die etwas geschrieben werden kann“. Diesen Vergleich finde ich sehr passend, und er hilft mir, wenn ich mich mal wieder in etwas verrenne oder mein Ego zu viel „will“.

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich Veränderungen verabscheut. Ich war damit total überfordert und habe mich gegen sie gewehrt so gut ich konnte. Ich wollte lieber, dass alles so bleibt wie es ist und habe mir eingeredet, dass mir das Sicherheit gibt und Kontrolle über mein Leben lässt.
Irgendwann hat sich der Schalter dann umgelegt. Ich bin offener geworden, Veränderungen wurden radikaler und sind mir einfach mit einer solchen Intensität passiert, dass ich mich gar nicht erst dagegenstellen konnte, weil völlig klar war, dass sie nötig sind.
Inzwischen weiß ich, dass Veränderungen dazu gehören, und kann ihnen mit einem Lächeln begegnen, weil sie eine Frische in meinem Leben hinterlassen, die vorher gefehlt hat. Es ist das Gegenteil von Langeweile, weil einfach immer etwas Neues passieren kann. Und das ist überhaupt nicht mehr schlimm.
Und versteht mich nicht falsch; es geht nicht darum, sich nicht festzulegen oder nirgendwo anzukommen, um offen für was Neues zu bleiben. Es geht darum, im gegenwärtigen Moment komplett anzukommen, und sich auf ihn auch radikal einzulassen.  Was im nächsten Moment passieren soll, können wir nicht wissen. Wir sollten nur sicher sein, dass wir nichts wissen. Und das Schöne daran ist, dass wir gerade dann besonders viel wissen werden.

 

„Weil ihr behauptet: ‚Wir sehen‘, deshalb seid ihr blind.“ Jesus/ Johannes 9